Philosophische und Historische Anthropologie
Anthropologische Fragestellungen stehen seit der Antike im Zentrum der Philosophie. In den klassischen Texten finden sich demgemäß auch zahlreiche Reflexionen über das Wesen des Menschen, die sich in terminologischen Bestimmungen wie zóon lógon échon, zóon politikón oder animal symbolicum verdichten.
In kritischer Abhebung von solchen, aus kulturwissen-schaftlicher Sicht zuweilen essentialistisch anmutenden Definitionsbestrebungen hat sich im 20. Jahrhundert die Philosophische Anthropologie als eigenständige philosophische Richtung entwickelt. Gegenüber der metaphysischen Tradition wendet sich diese Strömung den Wissenschaften vom Menschen wie Biologie, Ethologie, Medizin und Psychologie zu, um detaillierte und empirisch gesättigte Analysen menschlicher Grundphänomene leisten zu können. Methodisch geht die Philosophische Anthropologie zumeist von phänomenologischen Beschreibungen körpernaher Phänomene (expressives Verhalten, leibliche Interaktion mit der Umwelt und sozialen Anderen) aus, um strukturelle Merkmale des menschlichen Selbst- und Weltbezugs herauszuarbeiten, die dann mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Verbindung gebracht werden können.
Die aktuellen interdisziplinären Forschungsfelder der Philosophischen Anthropologie sind vielfältig. In der Tierphilosophie geht es beispielsweise um den Vergleich der kognitiven Leistungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Primaten, der durch entwicklungspsychologische und evolutions-biologische Methoden ergänzt wird. Der Status der Subjektivität und ihrer symbolisch vermittelten, welterschließenden Funktion für den menschlichen Organismus wird im Rahmen der philosophischen Auseinandersetzung mit der neurowissen-schaftlichen Naturalisierung des Geistes diskutiert. Aus der Phänomenologie der Intersubjektivität ergeben sich zahlreiche Bezüge zur kognitionswissenschaftlichen Erforschung der Empathie und „Theory of Mind“. Schließlich leistet die Philosophische Anthropologie mit ihrem begrifflichen Instrumentarium einen wichtigen Beitrag zur Klärung praxisrelevanter Fragen der Medizin- und Bioethik, z.B. nach der Würde des menschlichen (und tierlichen) Lebens, nach technologischen Eingriffen in den Organismus, oder nach den existentiellen Dimensionen von Geburt und Tod.
Historische Anthropologie zielt auf eine Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft und die Historisierung der Anthropologie. Sie hat die Grundphänomene menschlichen Lebens in ihrem zeitlichen Wandel zum Gegenstand. Was als ein Grundphänomen anzusprechen ist, kann nicht als zeitübergreifend kanonisiert gelten. Unbestritten zählen jedoch jene Erscheinungen dazu, die mit menschlicher Körperlichkeit zusammenhängen, also beispielsweise die Differenz zwischen den Geschlechtern, Geburt, Lebenszyklen, Krankheit, Sterben und Tod, und ebenso Wahrnehmung und Emotionen. Sie treten uns nicht als biologische Gegebenheiten unmittelbar gegenüber, sondern werden als leibliche und mentale Erfahrungen sowie als Techniken des Körpers und der Subjektivierung kulturell geformt, erlernt und interpretiert.
Neben der Geschichtlichkeit der menschlichen Natur, d. h. den Deutungsmustern organischer und psychisch-mentaler Phänomene, nimmt die Historische Anthropologie auch primär sozial-kulturelle Zusammenhänge in den Blick, welche die Menschen prägen. Solche Zusammenhänge sind etwa Familie und Verwandtschaft, soziale Organisationsformen, normative Ordnungen, Legitimation von Macht, organisierte Gewaltausübung oder die Entstehung und Weitergabe von Sinnstrukturen und Weltbildern. Hier fragt die Historische Anthropologie nach sozialen Praktiken und symbolischen Formen, durch die Menschen ihr gesellschaftliches Zusammenleben organisieren und regulieren.
Historische Anthropologie untersucht die genannten Phänomene in ihrer Zeitlichkeit und Veränderbarkeit. Sie zielt dabei sowohl auf immer wieder auftretende Herausforderungen an Menschen und das Allgemeine im Besonderen als auch auf historische Vielfalt. Multidisziplinäre Zugänge, interkulturelle Vergleiche, Konzentration auf menschliche Praxis, Mentalitäten und Dispositionen und die Frage nach Wechselwirkungen zwischen Grundphänomenen sind typische Herangehensweisen historisch-anthropologischer Studien.
Die diskursiven und medialen Bedingungen anthropozentrischer Selbstbeschreibungen und damit die jeweiligen Menschenbilder wandeln sich. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive interessiert sich die Historische Anthropologie daher auch dafür, von wem und wie die Frage nach dem Menschen in vergangenen Zeiten formuliert, wie sie beantwortet wurde und auf welche populären Resonanzen diese Antworten gestoßen sind.